Und dann betrittst du über den Hinterhof der Postwendeapokalypse barrierefrei das Reich von Familie Haase am Brühl 26 und alles ist gut. Die Holzvertäfelung von 1994, der Tresenfernseheher, der ohne Ton das Programm von Radio Sachsen bebildert und der leichte Grundwassergeruch: Hier kann die Seele landen. Nach schwiegerväterlichem Demenztest, Reifenpannenreparatur für sagenhafte 67,82 € (Dank Fallpauschale ist die Krankenkasse nicht zuständig) und paardynamischer Schlechtwetterfront glätten sich mit Meissenwein, Karpfen Blau und Stammkundenverwöhnprgramm alle mentalen Bodenwellen. Ein Hoch auf die sächsische Gastfreundschaft und die ausgezeichnete Küche. Ein Hoch auf diesen furiosen Tag, der sich nun zur Ruhe bringt.
Monat: Oktober 2016 (Seite 1 von 1)
Fast seh ich sie dasitzen und lachen mit zurückgelegtem Kopf und flatterig geschlossenen Augen unter den hochgezogenen Brauen. . Die Erika. Vaterschwester. Nun liegt sie unter weißem Schotter, gleich neben Oma Lina. – Der guten Seele. Der Pfarrgartenbezwingerin und Äpfelausschneiderin mit den Händen wie Reibeisen. – Und Opa Kurt, von dem ich immer schon nichts als sein Grab kannte. Nach dem Friedhof gab es Wurstbrote bei Manne, mit der Hausschlachtenen und Geschichten, mit allem Drum und Dran. Hochzeitsfotos, Herzensklugheit und immer wieder Tränen. So viel Liebe. Für die Erika gibts keinen Ersatz. Dazu nickt auch die Hanni weise, während ihr Geist über dem Sofa schwebt und ab und zu mit dem Licht zittert.
Vor der Tür steht “Urlaub im Alltag”. Drinnen praktische Böden in lichtgrau. Die unaussprechliche Concierge geht um 4 und morgens um 7 wird die Heizung entlüftet. Am Tisch das Schwiegerelternpaar in ihrer bestürzend hinreißenden Zerbrechlichkeit und der nicht verenden wollenden Hoffnung, morgen als jemand ganz anderes, ganz anderswo aufzuwachen. Als Prinzessin im Märchenschloss oder als ein Ungebundener, kräftig, mutig, jung. Die Angst in ihren Augen greift mir ins Herz. Und diese Sehnsucht nach einem ungebrochenen Leben, das auf der Strecke blieb.
Schön schlafen in Chemnitz. Das klingt auf Sächsisch wie das “Ick bünn all hier” der Igelin zum Hasen. Marx schüttelt gegenüber den Kopf. Proletarier aller Länder gibts hier schon lange nicht mehr. Und die Nationen haben ihre Straße aussterben lassen. Leer steht sie und erwartet die Kommenden. Aber: schau. Gottlob. Da sind sie schon, aller Cegida zum Trotz. Männer, Frauen, Kinder in allen Hautfarben. Und in allen Sprachen sprechen sie: Bin do. Und die Hasen rennen um den Sieg als ginge es ums Leben. Statt um die Angst, zu kurz zu kommen.
Habe eine Glasmurmel gefunden. Ganz allein. Bis aufs Aufheben.
Meine Ernte, heute, an Erntedank. Einem der Pfarrhauskinder stibitzt.
Aber vielleicht ist ja Ernte immer auch ein Stibitzen, ein Raub, ein Sichnehmen dessen, was einem bis dahin nicht gehörte. Was vielleicht jemandem, vielleicht niemandem, vielleicht nur sich selbst gehörte.
Da liegt er nun. Mein Raub. Dem ewigen Kruso auf dem Scheitel. Und unweit das Sibirischen Birnchen, das der Wind geerntet hat, stibitzt vom Strauch, neulich, noch ganz grün. Und das er doch nicht forttragen konnte und zurücklassen musste. Das nun zusehends rot wird, nichtsdestotrotz. Und mir vorgaukelt, es gehörte mir.
Dabei habe ich es doch nur gefunden. Wie die Murmel.
Wohlmöglich erntet sie mir beide noch einer weg.