Monat: Januar 2025 (Seite 2 von 2)

Achter Januar : Neununddreißigster Türchentag

„Bitte
alle einsteigen.“
Ruft der levrierte Liftboy bevor er den messingglänzenden Knopf drückt.
Nächster Halt 1982
mit dem Erinnerungsfahrstuhl
der über einem Schinkenbrot
mit Räucherpute
angeschwebt kommt.
Weil sich hier
mal wieder ein Kreis schließt.
Oder auch nicht.
Sondern offen bleibt
und einen Looping dreht.
Wenn auch nicht gespuckt
wie von Lukas dem Lokomotivführer
aber doch im Kreis
sich öffnend
zwischen Fleischerei Hühndorf
in Halle
wo man
die Putenlende als Goldstaub
vor Weihnachten vorbestellt und beim Abholen über den Tresen gebeugt konspirativ
wispert
und
Frau Erkelenz
die ganzgenausolche Räucherlinge
unter ihrem Ladentisch hervorholte
in der Geflügelschlachterei in Loitz.
Bückware heute wie damals
schräg gegenüber vom Fischladen.
Wo ich
zweimal die Woche nach der Physio
bei Frau Spierling im Ambu
auf dem Weg nach Hause in die Hausmannstraße 7
ein Würstchen auf die Hand bekam.
Nach einer dürftigen
Mischbrotstulle mit in die Löcher gekratzter Rahmbutter und irgendnem Gelee
die es morgens vorm Losgehen schnell schnell noch am elterlichen Frühstückstisch gegeben hatte
und den isometrischen Spannungsübungen ausgehungert
hatte ich von Tagesmutter Gisela
einzig für diese Abholwege
eine Kindergartenpausenbrottasche
mit Drehverschluss bekommen.
Mehr als Deko.
Aber mehr Kindergarten gabs ja auch nicht
für mich als aus dem sozialistischen Wettbewerb aussortiertes Kind
Der fand immer schön in Reihe hüpfend
und schon von in Wollpryla bestrumpfhosten Kindesbeinen an
für mich nicht statt.
Gottlob.
Dafür war für mich
E-Rollifahren auf Giselas Schoß inklusive.
Kullerkartoffeln.
Strickenlernen
und dabei lesen
kopfüber
in Fraktur
Nesthäkchen Heidi und co.
Und die Vormittagswiederholung
von Willi Schwabes Rumpelkammer
oder einem Kessel Buntes.
Geflimmert aus der Anbauwand
gleich unter dem Schokoladenfach.
Gisela du Zauberin.
Immer wie aus dem Ei gepellt
gerne mal im Dirndl
rechts neben mir
mit klappernden Nadeln
ohne Hingucken
oder höchsten mal ganz kurz
um das Muster abzuzählen
in einem Affenzahn.
Die schweren Poliobeine
hochgelegt auf deinem Sessel in der Ecke.
Immer mit 150prozentig guter Laune.
Laut. Deine schönen Zähne zeigend.
Wo du wohl
deine Traurigkeiten hinversteckt hast
frag ich mich heute.
Deine Angst
als die Krebsdiagnose
 fiel.
Nachdem sie dich
ein halbes Jahr
auf Nierenbluten behandelt haben.
Ohne dich einmal zum Gynäkologen
zu schicken.
Frauen mit Behinderung
haben keinen Unterleib.
Höchstens zum Wasserlassen.
Mit so viel Zumutung hast du gelebt.
Mit Zuschreibung und Schmerz.
Ich hab so
unermesslich viel
von dir gelernt
du Glücksumstand. Du Wegbereiterin. Du sichere Bank.
Hast mich genährt und gelehrt.
Dass es immer
mindestens einen Umweg gibt.
Dass ich einen Mund hab
zum Reden.
Dass ich ein Recht habe
zu gestalten.
Und der Welt zeigen kann
wie.
Was meine Hände können
und mein Geist.
Und dass immer was geht.
So viel hast du mir beigebracht.
Und doch das eine nicht.
Nicht
mein Anderssein zu betrauern.
Mir zu gestatten
mich ausgeschlossen zu fühlen
wo das doch
an der Tagesordnung ist.
Das hast du nicht.
Um mich jedoch
auch da zu trösten. Durch deine bloße Existenz.
Mit dem Luxus einer Extrawurst
jeden Dienstag und Donnerstag.
Bock oder Wiener. Wie ich wollte. Meistens
musstest du den Rest aufessen.
Und mit einem Schinkenbrot
in Häppchen geschnitten.
Das Wiederkehrt.
Das auftaucht und den Aufzug ruft
nach 1982.

 

Siebter Januar : achtunddreißigster Türchentag

Du bist aber
schmal geworden.
Sagen sie.
Und weniger
auskunftsfreudig.
Sagen sie.
Kunstück.
In diesen Zeiten.
Wo keiner mehr
einen Nachschlag verlangt.
Was war das für ein Leben
als du sie alle vereint hast
all die Angeschlossenen.
Selbst im Osten warst du dicker
wo noch lange nicht
jeder Haushalt
fernverdrahtet war.
So wie unser.
23904Rostocklohsegutentag…
Und die Frau Ternité
die mit schöner Regelmäßigkeit
abends an die Küchentür klopfte:
„Darfsch moa dienstlisch anruhfn?“
Und du lagst
still dabei
auf der Tiefkühltruhe.
Oder standest
auf dem Amtszimmerschreibtisch
dem schönsten Ort im Haus
von ganz allein.
So dicke
hattest du es mal.
Und hast dich im Zweifelsfalle
breit aufschlagen lassen.
Hast die Stadt
und alles was da lebt
durchbuchstabiert.
Seite für Seite.
Welch eine Wonne
wenn der suchende Finger
sich vertikal nach unten
tastend fündig wurde.
Dein einträgliches Geschäft war es
das Dasein der Sesshaften
zu berechtigen. 
Der Analogen.
Festvernetzten.
Nicht weg zu denken
überall zugegen
konntest du früher
Ziegelsteine ersetzen
und
Teller erhöhen für Muskelkranke
wenn mal wieder das Stövchen
fehlte.
Du verschwiegenes
redendes
Buch der Bücher.
Wie gerne
hätte ich dich mal
vorgelesen.
Wenig Handlung
aber jede Menge spannende Charaktere.
Geblieben sind dir
ein paar
dünne Seiten.
Und ein paar
Dinosaurier
die dir die Treue halten.
Und ihrer ISDN-Anlage im Keller.

 

Epiphanias : Siebenunddreißigster Türchentag

Alle Wege
führen
weißt du
dorthin
was
im Verborgenen
offenbar geworden
ist.
Klein und zart
aus der Wurzel des Vertrauens
von einer
gegen die Furcht an.
Und vieler zuvor.
Allem zum Trotz
was ganz anders
und nicht gut aussah.
Alle Wege führen
hinein
wenn auch vielleicht
nur wackelige Stege
zum Innersten dessen
der dir erscheint
der dich zieht
an das Herz der Barmherzigkeit.
In die Arme der Erbarmung.
In das Wort
das keine Antwort braucht.
Alle Wege führen
sicher
dorthin wo
warm dich erwartet
was von Anfang an gewesen ist
und zur Welt kommt
obduwillstodernicht
auch in dir
und
hinaus strahlt
in alle Dunkel.
Gewisslich.
Dass
sie niederfallen
vor der Dämmerung
dieses Lichts
und ihre Schätze auftun.

Fünfter januar : Sechsunddreißigster Türchentag

Was
so ein Körper
alles kann.
In alle Richtungen kann er wachsen.
Wölbungen produzieren
Kurven
Ecken
verborgene Täler
geliebte Grübchen
Haare
Warzen
zarte Fältchen.
Fest und weich
kann er sich geben.
Glatt und rauh.
Kann sich bewegen und bewegen lassen.
Kann fliegen
inundauswendig.
Kann Wellen machen
die Erde umpflügen
und kann wie ein gestrandeter Wal
angewiesen sein
auf deine Hände und Füße.
Kann Schweiß
perlen lassen
wie Tau.
Kann sich rühren
wenn du ihn berührst.
Kann wen wärmen
die erfriert.
Ist dein Zuhause
und meine Zuflucht.
In ihm wohnt
der Vogel Herz.
Flatternd und schlagend.
Er ist der Dom
für das Lied
aus deiner Kehle

Vierter Januar : Fünfunddreißigster Türchentag

Und dann geht
nochmal Weihnachten auf
über dir.
Haltbar
und frisch.
Grün.
Und warm und süß und golden.
Ein Platz zum Einhaken.
Wo sich löst
was verknotet und eng war. In Liebe. Mutig. Sicher.
Wo du neu beginnen kannst. Mit allem was bleibt und geht.
Wo du Barmherzigkeit üben kannst
und immerimmerimmerwieder
die Dinge
von allen Seiten
so spannend
so erhellend
so schön
zu sehen.
Wo Hoffnung sprießt
und wo
alle Wege hinführen.
Wo du auf die Knie fällst
dankbar
gerettet
wenn auch bestimmt nicht
nie wieder ohne Not.
Aber mit
der Wärme eines vertrauten
Feuers
im Rücken
und am Himmel Sternschnuppenströme
die du nicht siehst.

Dritter Januar : Vierunddreißigster Türchentag

Den Weg voraus
die Straße unter den Füßen
schon mal ein bisschen
gen Süden
wenn auch ohne große Temperaturrelevanz.
Italien ist weit.
Es bleibt frostig
Schneewehen wabern.
Der Wald ist weiß.
Und es hängt noch ganz schön was im Himmel.
Vielleicht schlingert der Asphalt.
Weil da niemand vor dir her geht
der aus dem Weg räumt
was dich straucheln lässt.
Mach langsam.
Pass auf dich auf.
Und behalte im Herzen
wo du hin willst. 
Den roten Faden
im Blick und dein Gepäck
geschnürt.
So lang es eben braucht.
Und dann schau.
Und über allem
die Sonne
gleißend
verheißend
hell
und im Grunde
warm.

Zweiter januar : Dreiunddreißigster Türchentag

Und dann fragst du dich
müde
und etwas leer
am zweiten Tag des Jahres
unter einem
stahlblauen Abendhimmel
der sich in mittelalterlicher Lasurtechnik
fein geschichtet
und wie von innen her leuchtend
blau so blau
mit dem perfekten Übergang der Farbtöne
was wohl passiert wäre
wenn du da oder dort
anders abgebogen wärst.
Wenn du da deinem Sehnen
gefolgt wärst
oder dich dort getraut hättest
zu tun
was du tun wolltest
zu sagen
was du nicht gesagt hast
zu gehen
wo du geblieben bist
es gewagt hättest
deinen Schmerz zu zeigen
deine Liebe
deine Wut
deine Schönheit
und dein Nein.
Wenn du mehr Vertrauen hättest haben können
gesehen zu sein
richtig so
wie du bist.
Wenn du die Kontrolle fahren
und dich
nicht beschämen hättest lassen.
Wer wärest du dann heute?
Und wo?
Vielleicht wäre
weniger zerbrochen
was du mit Mühe
wieder hast einsammeln müssen und neu zusammenzusetzen.
Und warten
was heil wird und neu.
Vielleicht wären
in deiner Resonanz
dann weniger widersprüchliche Töne. Heute.
Vielleicht wärst du
unversehrter.
Aber eben auch
ärmer um die Erfahrung
wie kostbar und schön
Bruchstücke sind
und das Glück
sie wieder zu finden
wo sie unter den Teppich gekehrt waren
hervor zu holen
mutig
zuversichtlich
erwachsen.
Entwachsen
dem Anspruch
eines alten Entwederoder.
Auf die Ahnung
hin zu
einem zarten
goldenen
glockenschlagklaren
mächtigen
rettenden
Sowohlalsauch.

 

 

Neujahr : Zweiunddreissigster Türchentag

Nun
steht sie vor dir.
Deine Schüssel
voll mit neuem Jahr.
Das hast du dir nicht selbst eingebrockt.
Das gab es geschenkt.
Ungefragt.
Höchstwahrscheinlich nicht für umsonst.
Aber das wird sich zeigen.
Was es dich kosten wird.
Und kosten lassen.
Auf jeden Fall
ist es aufgetan
von einer
die es immer gut mit dir meint
an der Ausgabe.
Eine große Portion.
365 Tage schwer.
Noch ganz heiß.
Ganz frisch.
Der erste Aufguss.
Definitiv.
Eigentlich willst du sie erst mal
ein bisschen stehen lassen.
Nach der kurzen Nacht
und allem
was das letzte Jahr
dir noch eben eingeschenkt hat
ist es noch ein bisschen flau im Magen.
Aber alles nach und nach.
Muss ja nicht alles auf einmal sein.
Erst mal die gute Brühe.
Die Ursuppe des Jahres.
Die ist schon mal nicht schlecht.
Sie wärmt
und belastet nicht.
Viele gute Dinge sind in ihr gelöst.
Auf die du vertrauen kannst.
Die Essenz all dessen
was schon war. Verlässlich und stabil.
Und dann findet sich auch gleich auf dem Löffel
neben einem köstlichen Taubenmagen und einer Erbse
die vierte Kantate des Weihnachtsoratoriums.
Mit der so tröstlich vertonten
Frage aller Fragen
auf die es ja dann auch gleich die Antwort gibt.
Prompt und geechot
vom Doppelsopran.
„Sollt ich nun das Sterben scheuen? Nein. Dein süßes Wort ist da. Oder mich viel mehr erfreuen? Ja. Du Heiland sprichst selbst ja.“
Na dann.
Dann mal ran an den Löffel
und schauen
schmecken und sehen
wie freundlich der ist
der dies spricht.
Hab Vertrauen.
Die Frau an der Suppenausgabe
ist seine Angestellte.